Ein Mann und eine FrauNatalia Ginzburg
Taschenbuch
Mit Dante, Petrarca, Boccaccio, Machiavelli, D'Annunzio, Svevo, Calvino und Eco zählen ohne Ausnahme männliche Autoren zum italienischen Literaturkanon. Die Suche nach den Namen großer Schriftstellerinnen aus den entsprechenden Epochen gestaltet sich schwierig. Doch im 20. Jahrhundert ist die Zahl schriftellerisch tätiger Frauen in Italien, die Vielfalt ihrer Stile und Genres und ihr Erfolg so groß wie nie zuvor. Eine Frau steht wie keine zweite für diese Entwicklung. Natalia Ginzburg wurde 1916 in Palermo geboren, lebte die meiste Zeit in Turin und starb 1991 in der italienischen Hauptstadt. Mit ihrem Werk, das stilistisch dem Neorealismus zugeordnet wird, erlangte sie internationale Berühmtheit. Der vorliegende Band Ein Mann und eine Frau enthält zwei Erzählungen von 1977. In beiden schreibt Natalia Ginzburg zu ihrem Hauptthema: der Zerfall der Familie. In den sprachlich beeindruckenden Texten verzichtet Ginzburg auf direkte psychologische Beschreibungen. Die Autorin beschreibt knapp und nüchtern die private Welt ihrer Figuren, den Nahbereich ihres persönlichen Alltags. Typisch für den Neorealismus wählt Ginzburg scheinbar simple Themen, schlichte, in ihrer Psychologie unkommentierte Charaktere und einen unprätentiösen Stil. Die Erzählhaltung ist distanziert, der Blick auf die Geschehnisse neutral. Sowohl Ein Mann und eine Frau wie auch Borghesia: Das Lied vom Bürgertum erinnern an die szenische Gestaltung von Theaterstücken. Der Mann Carmine und die Frau Ivana waren vor vielen Jahren bis zum Tod ihres gemeinsamen Kindes ein Paar. Jetzt sind sie nur noch Freunde. Ein Mann und eine Frau erzählt von den Beziehungen, die beide Protagonisten eingehen und beenden. Mit wechselnden PartnerInnen verbindet sie kurze Leidenschaft, Mitleid, unabsichtlich gezeugter Nachwuchs. Sie sind unfähig zu tiefen sozialen Bindungen. Ginzburg stellt die Unerreichbarkeit eines erfüllten Lebens nüchtern aus. In Borghesia: Das Lied vom Bürgertum steht die verwitwete Ilaria im Mittelpunkt. Ihre einzige Freude ist die jeweilige Katze, die bei ihr lebt, bis sie nach einem tragischen Unfall durch eine neue ersetzt wird. Verwandte und Freunde sind lediglich Statisten in Ilarias Leben. Sie verlassen sie, kehren zurück, machen sich wieder davon. Keine Beziehung in diesem Text ist von Dauer. Und als Ilaria überraschend stirbt, wird klar, dass sie als Letzte einen gewissen Familienzusammenhalt gewährleistet hatte. Natalia Ginzburg schreibt bescheidene, aber umso beachtlichere Literatur. Ihre Stärke liegt in der Zurückhaltung und der sprachlichen Genauigkeit, mit der sie ihre Leserinnen in einem Sandkorn die ganze Welt sehen lässt. Sie hat "ein Häuflein von winzigen Eindrücken bewahrt". Sie hat in Ein Mann und eine Frau "die Stimmen bewahrt, den Schmutz, die Regenschirme, die Leute und die Nacht." Und das ist eine Menge. --J. Hager
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