Der verstörte Eros: Zur Literatur des BegehrensDieter Wellershoff
Sondereinband
Wenn seine Texte von einem Literaturwissenschaftler analysiert werden, hat Jurek Becker einmal gesagt, komme er sich vor wie ein Vogel, der einem Ornithologen zuhört. Dieter Wellershoff hat dieses Problem nicht, er ist in beiden Welten zu Hause: Er war Lektor, hat an der Uni über Literatur doziert und ist zugleich erfolgreicher Schriftsteller (mit seinem letzten Roman Der Liebeswunsch konnte er sogar Reich-Ranicki begeistern). Aber vor allem ist Wellershoff leidenschaftlicher Leser, der seine Leseerfahrungen aus vielen Jahren in intelligente Essays fließen lässt. Ging es in Der Roman und die Erfahrbarkeit der Welt (leider vergriffen) um die Form- und Inhaltsgeschichte des Romans von Cervantes bis Pynchon, nimmt sich Wellershoff diesmal die Literatur des Begehrens vor und bedient sich dabei wieder aus dem Fundus der Weltliteratur: Von Goethe und Stendhal über Balzac, Flaubert und Tolstoi bis hin zu Proust, Henry Miller und John Updike. Auch wenn im Vorwort mit Understatement vom "Liebhabertext mit persönlichen Lesarten" die Rede ist, skizziert Wellershoff nichts weniger als eine Geschichte der Erotik der letzten 250 Jahre. Der Bogen beginnt bei Schillers "Glocke", wo es darum geht, den Eros zu zähmen, "flugunfähig" zu machen, damit er die Stabilität der bürgerlichen Ehe nicht gefährdet, und endet beim sexuellen Elend in den Romanen Michel Houellebecqs, in dessen Augen die sexuelle Revolution zu einer inhumanen Ideologie geführt hat, deren sexuellem Erfolgsdruck viele nicht gewachsen sind: "In einem völlig liberalen Sexualsystem haben einige ein abwechslungsreiches und erregendes Sexualleben, andere sind auf Masturbation und Einsamkeit beschränkt." (Ausweitung der Kampfzone). Spannend sind die vielen kleinen Schritte von einem restriktiven zu einem "völlig liberalen" Umgang mit dem Eros, die in der Literatur vorgezeichnet werden bzw. dort ihren Widerhall finden. Zum Beispiel die berühmten Ehebrecherinnen der Weltliteratur -- Madame Bovary, Anna Karenina und Effi Briest --, deren erwachter Glücksanspruch zusammen mit dem Ideal der romantischen Liebe "zu einer Sprengladung für die bürgerliche Moral und ihre Tugendordnung" wird. Wellershoffs Analysen sind gut zu lesen, frei von wissenschaftlichem Jargon und bringen viel Erhellendes zu Tage, etwa wenn er Goethes Werther verglichen mit dem Valmont aus Gefährliche Liebschaften zum moderneren Verführertypus erklärt. Rätselhaft aber bleibt der Titel -- der Begriff des "verstörten Eros" taucht im Text an keiner Stelle auf und wäre höchstens auf Houellebecqs kaputte Helden anwendbar. Vielmehr weist dieser unterhaltsame Streifzug durch drei Jahrhunderte Literaturgeschichte auf die Kraft und Unzähmbarkeit des erotischen Begehrens hin, das sicher auch die marktwirtschaftliche Instrumentalisierung unserer Tage überleben wird. --Christian Stahl
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